Stellungnahme zum Antrag "Keine Gabe von Pubertätsblockern an Minderjährige"
Unter dem Titel „Keine Gabe von Hormonblockern an Minderjährige“ stellte die AfD einen Antrag zur Beratung und Beschlussfassung im Ausschuss für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt. Dort wurde dieser am 22.11.2023 beraten.
Wie üblich wurden von den gewählten Parteien Expert*innen zur Anhörung gebeten, um auf dieser Wissensbasis beschließen zu können. Die Anhörung findet in schriftlicher Form statt. Unsere Referentin für trans, nichtbinäre und inter Menschen Daria Kinga Majewski wurde gebeten eine Stellungnahme abzugeben.
„Das Thema ist komplex und muss stets im besten Sinne für die trans und nichtbinären Jugendlichen diskutiert werden. Auf keinen Fall darf ein politischer Kampf auf Kosten des Wohls der Jugendlichen ausgetragen werden. Ich hoffe der Ausschuss wird entsprechend progressiv entscheiden. Denn eins steht fest: nicht alle trans und nichtbinären Jugendlichen wollen Hormonblocker, aber für andere sind diese lebensrettend.“ (Sven Warminsky – Geschäftsführer des Zentrum für sexuelle Gesundheit)
Hier findet ihr unsere Stellungnahme:
Stellungnahme zum Antrag "keine Gabe von Pubertätblockern an Minderjährige" Drs. 8/2794
Sehr geehrte Mitglieder des Ausschusses für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung des Landtages von Sachsen-Anhalt. Sehr geehrte Interessierte,
vielen herzlichen Dank für die Möglichkeit mich hier in schriftlicher Form zu dem kontrovers diskutierten Thema von trans und nichtbinären Jugendlichen unter 18 und den für diese Altersgruppe möglichen Transitionswegen zu äußeren.
Über mehrere Jahre war ich für trans, inter und nichtbinäre Menschen in Sachsen-Anhalt in einer Beratungsstelle tätig und begleitete zahlreiche Jugendliche, sowie deren An- und Zugehörige in ihren komplexen Fragestellungen und Prozessen bezüglich geschlechtlicher Vielfalt. Auch beriet ich Kinder- und Jugendtherapeut*innen, wie auch Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe zu ihren Fragen nach Bedarfen von Jugendlichen, die einen kritischen Prozess mit ihrer Geschlechtlichkeit durchlaufen. Mit diesem Wissens- und Erfahrungshintergrund möchte ich mich gerne in die Debatte einbringen.
Direkt zum Einstieg der Stellungnahme eine ausdrückliche Warnung davor sog. „Pubertätsblocker“ blindlinks, zu verbieten. Nicht nur würde ein solches Verbot massiven Schaden für jene trans und nichtbinären Jugendlichen bedeuten, für die in psychologischer und medizinischer Begleitung eine solche Maßnahme durch Expert*innen als sinnvoll erachtet wurde. Auch für Jugendliche mit anderen gesundheitlichen Herausforderungen, bei denen diese medizinische Maßnahme bereits seit Jahren angewandt wird, trügen einen massiven schaden davon. So werden die sog. „Pubertätsblocker“ bereits erfolgreich bei frühzeitig einsetzender Pubertät verwendet und sind in Wirkung und Nebenwirkung hier erforscht. Statt eines Verbotes wäre eine interdisziplinäre Auseinandersetzung in Fachgremien mit dem Einsatz der Pubertätsblocker angezeigt. Bereits jetzt zeigen sich Folgen der geführten Diskussionen um Transgeschlechtlichkeit, Nichtbinarität
und Pubertätsblocker. Dringend notwendig wären Bündnisse und Netzwerke, Fachgremien und Expter*innenaustausch zwischen Wissenschaft, Medizin, Psychologie, Beratung, Pädagogik und Community. Dieser Austausch muss durch Politik in entsprechenden Programmen gefördert werden.
Die Bedeutung der Interdisziplinarität zeigt sich in der Frage um „Pubertätsblocker“ selbst, die nicht eindimensional beantwortet werden kann. Bevor Jugendlichen (unter 18) diese verschrieben werden können, muss die medizinische Notwendigkeit einer solchen Behandlung nachgewiesen sein. Sog. Pubertätsblocker, kommen dann zum Einsatz, wenn
- Die körpereigene Pubertät noch nicht eingesetzt hat, aber in naher Zukunft vermutet wird, und das Kind bereits eindeutige Zeichen einer Geschlechtsdysphorie aufzeigt. Hier kann das Einsetzen der körpereigenen Pubertät verhindert werden, um so Zeit zu gewinnen, um herauszufinden welche Ursachen der geschlechtsdysphorische Zustand hat. Damit wird eine traumatische Erfahrung durch das Einsetzen der körpereigenen Pubertät verhindert. Stellen Mediziner*innen und Psycholog*innen in enger Absprache mit den Eltern, bzw. Erziehungsberechtigten und den Jugendlichen selbst fest, dass eine Hormonersatztherapie zur Einleitung, der als richtig empfundenen Pubertät angezeigt ist, kann mit dieser begonnen werden. Eingebunden sind Therapeut*innen und Mediziner*innen, die das Kind und die Familie in dem Prozess begleiten. Kommt es aus verschiedenen Gründen nicht zu dieser Entscheidung, können Pubertätsblocker abgesetzt und so die körpereigene Pubertät wieder eingeleitet werden. Pubertätsblocker gelten also im Allgemeinen als reversibel.
- Die körpereigene Pubertät bereits eingesetzt hat, es bei den Jugendlichen jedoch zu starken dysphorischen Erfahrungen führt, so dass die psychische Gesundheit der Jugendlichen gefährdet ist. Hier kann mit Einsatz der Pubertätsblocker ein Fortschreiten der körpereigenen Pubertät, die als leidvoll erfahren wird, pausiert werden. Dies gibt Mediziner*innen, Psycholog*innen, den An- und Zugehörigen und insbesondere den Jugendlichen selbst Zeit in eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema zu gehen und herauszufinden, welche weiteren Schritte gegangen und oder nicht gegangen werden sollen. Es kann im Anschluss eine Hormonersatztherapie eingeleitet, oder aber die Pubertätsblocker wieder abgesetzt werden. Diese sind im Allgemeinen reversibel und so setzt die körpereigene Pubertät wieder ein.
Im Kontext von Transgeschlechtlichkeit und Nichtbinarität bei Jugendlichen (unter 18 Jahren) kann zu Pubertätsblockern gesagt werden, dass diese im Notfall den Jugendlichen, wie auch ihrem Umfeld, Zeit schenken. Zeit, die genutzt wird, um im Sinne des jungen Menschen gute Lösungen zu finden. Hierzu ist eine gute Zusammenarbeit von Forschung, Beratung und Begleitung, Therapeut*innen, Mediziner*innen, psychosozialen und communitybasierten Beratungsstellen und der Kinder- und Jugendhilfe wichtig.
Der Bedarf nach communitybasierter, systemischer, prozessorientierter und ergebnisoffener Beratung ist gerade in unserem strukturarmen Bundesland enorm. Derzeit finden sich kaum explizite hauptamtliche Beratungsangebote zu geschlechtlicher Vielfalt in Sachsen-Anhalt. Die Angebote im Einzelnen:
- Wildwasser Magdeburg e.V. berät allgemein Eltern von lsbtiq Kindern und Jugendlichen. Eine explizite Beratung zu Trans- und Intergeschlechtlichkeit sowie Nichtbinarität ist es nicht.
- BBZ lebensart e.V. berät in Sachsen-Anhalt Süd zu Transgeschlechtlichkeit und Nichtbinarität.
Weitere qualifizierte und hauptamtliche Beratungsstrukturen im Kontext der geschlechtlichen Vielfalt sind mir derzeit nicht bekannt.
In dieser Beratung muss nach aktuellen Standards gearbeitet werden. Derzeit ist es Teil des Auftrags Falschinformationen von fundiertem Wissen zu trennen: Verschwörungstheoretiker*innen und Idiolog*innen sorgen für Angst und Panik, die schädlich sind. Eltern und die betreffenden Jugendlichen sowie Fachkräfte verschiedener Disziplinen werden verwirrt. Dies geht auf Kosten des familiären Zusammenhalts und der Gesundheit der Jugendlichen, die sich in kritischen Prozessen mit ihrer Geschlechtlichkeit befinden. Insbesondere für Jugendliche unter 18, die ihr Geschlecht kritisch befragen, ist die eigene Familie und das Nahumfeld von besonders hoher Bedeutung. Das kann ich aus meiner Beratungspraxis berichten.
Die 2017 beim Deutschen Jugendinstitut veröffentlichte Studie Coming-out – und dann…?! Coming-out-Verläufe und Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland ebenso wie die 2016 veröffentlichte Studie Mental Health Of Transgender Children Who Are Supported In Their Identities zeigen beide deutlich, dass trans und nichtbinäre Jugendliche, die in einem unterstützenden Umfeld aufwachsen, eine gesündere Entwicklung durchleben, als ihre Peers, die diese Unterstützung nicht erfahren. Komorbiditäten wie soziale Ängste, selbstverletzendes Verhalten, Depressionen und Substanzmissbrauch sind wesentlich geringer unter denjenigen trans und nichtbinären Jugendlichen, die in einem zugewandten Umfeld aufwachsen. Ich schließe daraus, dass Verbote und Unterdrückung der gesunden Entwicklung von Jugendlichen, die ihr Geschlecht kritisch befragen, schaden. Nicht mit den eigenen Bedürfnissen koherente Entscheidungen werden dann vermutlich schneller getroffen als in einem offenen Klima, das Reflexion und Selbstentdeckung fördert. Es ist zu vermuten, dass der Kontakt zu anderen trans und nichtbinären Menschen, die vielfältige Lebensentwürfe haben, Sichtbarkeit von nichtnormativen Geschlechtern und die Aufklärung über die Vielfalt von Lebensentwürfen den Druck von den Schultern der Jugendlichen nimmt. Hier ist die Politik gefragt insbesondere den Auftrag durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz nachzukommen, auch trans, inter und nichtbinäre Kinder- und Jugendliche in ihren gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten zu stärken: Zum Beispiel durch außerschulische Bildungs- und Freizeitangebote, die Stärkung der Selbsthilfe und der Beratungsstrukturen, oder die Durchführung von Sichtbarkeitskampagnen. Der Druck die durch die körpereigene Pubertät vonstattengehende Vermännlichung oder Verweiblichung aufhalten zu müssen, um in Zukunft ein Leben in Würde führen zu können, kann aufgehoben werden, wenn das Leben an den Grenzen der Norm möglich ist.
Für Jugendliche, die in kritischer Auseinandersetzung mit ihrem Geschlecht sind, sowie deren An- und Zugehörige ist die wachsende Transfeindlichkeit im Diskurs schädlich. Zwar steigen die Zahlen der Jugendlichen, die sich als trans und/oder nichtbinär bezeichnen deutlich an, die Gewalt gegen sie wächst jedoch mit. Der Anstieg der trans und nichtbinären Jugendlichen hängt meines Erachtens mit der gesellschaftlichen Entwicklung zusammen: die erhöhte Sichtbarkeit durch Social Media und die geringeren Hürden, sowie vielfältigeren Lebensentwürfe von Menschen, erlauben es immer mehr Menschen ihr Geschlecht kritisch zu befragen und neue Lebensweisen zu entdecken. Dies geht im Gegensatz zur populistischen Meinung jedoch nicht mit einer erhöhten Sehnsucht nach Operationen einher, im Gegenteil. Zumindest aus meiner Beratungspraxis kann ich berichten, dass diejenigen Jugendlichen, die durch Social Media und/oder persönliche Kontakte in Austausch mit vielfältigen Lebensentwürfen (und damit auch trans und nichtbinären Menschen, die keine medizinische Transition durchlaufen) sind, sehr kritisch und reflektiert mit der Frage nach medizinischen Eingriffen umgehen. Es sind eher jene Jugendlichen, die unter hohem (normativen) Druck stehen, die überschnelle Entscheidungen treffen wollen.
Die Auswirkungen zeigen sich in meiner Beratung, durch eine gesteigerte Angst der Jugendlichen vor einer nichterfüllenden Zukunft. Viele dieser trans und nichtbinären Jugendlichen fragen sich, ob ein zufriedenes Leben als Teil dieser Gesellschaft für sie in Zukunft möglich ist, wenn ihr Aussehen nicht normativen und binären Standards entspricht. Die mediale und politische Polemik gegen trans und nichtbinäre Menschen, welche sich in Sorge um das Wohl der jungen Menschen kleidet, schadet ihnen meines Erachtens.
Trotz aller Versuche junge Menschen und deren An-und Zugehörige darin zu unterstützen die für den Moment beste Entscheidung in Bezug auf Transitionsmöglichkeiten zu treffen, wird es bei einigen dieser Menschen später zu Neuentwicklungen oder sogar Reue kommen können. Derzeit wird diese doch diverse Erfahrungsgruppe unter Detransition zusammengefasst. Zur differenzierten Information hierüber empfehle ich zum einen mein Interview mit Eli Kappo
und außerdem diese Broschüre: Detransition und alternative Transitionswege - QNN empfehlen.
Was brauchen wir in Sachsen-Anhalt, um das Thema der geschlechtlichen Vielfalt sinnvoll in unsere Gesellschaft zu integrieren, Kindern und Jugendlichen Halt und Orientierung, sowie deren An- und Zugehörigen Sicherheit zu geben:
- Politik muss ihrem Auftrag Gesellschaft zusammenzuhalten und allen Menschen ein würdevolles Leben zu garantieren nachkommen. Wir brauchen eine Politik, die vermittelt. Zum Beispiel zwischen konservativen und progressiven Werten und Lebensweisen.
- Communitybasierte, systemische, ergebnisoffene und prozessorientierte Beratungsstellen für geschlechtliche Vielfalt. Diese müssen nach modernen Standards, wie sie u.a. vom Bundesverband Trans* gelehrt werden, arbeiten.
- Organisierte Netzwerk- und Bündnisarbeit zwischen Wissenschaft, Medizin, Psychologie, Beratung, Politik und Community.
- Implementierung des Themenfeldes Geschlechtliche Vielfalt in die Curricula medizinischer, psychologischer und pädagogischer Ausbildungen und Studiengänge.
Expert*innen aus Medizin, Psychologie, Forschung, Community und Politik haben bereits anderenorts die Zugänglichkeit zur medizinischen Versorgung im Kontext der Transition von Jugendlichen in Leit- und Richtlinien erarbeitet. Bis 31.12.2023 arbeitet ein Fachgremium an der Fertigstellung einer S3-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung: AWMF Leitlinienregister . Auch die aktuell noch gültige Begutachtungsleitlinie Richtlinie des GKV-Spitzenverbandes nach §282 SGB V Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualismus (ICD-10, F64.0) beschäftigt sich mit entsprechenden Fragen und der in den kommenden Jahren in Kraft tretende ICD-11 legt im Abschnitt Conditions related to Health die Diagnose HA60 Genderincongruence fest, die eine eigene Diagnose zur Geschlechtsinkongruenz im Kindes- und Jugendalter enthält. Statt eines Verbotes der Behandlungsmöglichkeiten, sollte an einer adäquaten Ausbildung der in den Prozess der Transition eingebunden Fachkräfte gearbeitet werden. So dass diese über ein fundiertes, modernes und differenziertes Bild der Bedarfe, Möglichkeiten und Grenzen verfügen und so im besten Sinne für die Klient*innen und Patient*innen arbeiten können.
Daria Kinga Majewski
Referatsleiterin
Share on